Wallentin Hermann vs Alitalia
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Einleitung
Die Verordnung (EG) 261/2004 (Fluggastrechteverordnung, im Folgenden: EuFlugVO) gewährt Fluggästen unter bestimmten Voraussetzungen Ausgleichs- und Betreuungsleistungen, wenn sie von den Flugunregelmäßigkeiten Nichtbeförderung, Flugannullierung oder große Verspätung betroffen sind.
Die Höhe des Ausgleichsanspruchs orientiert sich an der Flugentfernung.
Liegen die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Ausgleichszahlung vor, beträgt diese
- bei Entfernungen bis zu 1.500 km :250,- EUR je Fluggast,
- bie allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km: 400, - EUR je Fluggast
- bie allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km: 600,- EUR je Fluggast
Eine Airline kann sich nur in eng umgrenzten Fällen hiervon exkulpieren. Sie ist nur dann von der Zahlung der Ausgleichsleistung nach Art. 7 befreit, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 vorliegen, d.h. sie muss nachweisen, dass
- ein „außergewöhnlicher Umstand“ vorliegt,
- die Annullierung oder große Verspätung auf einen solchen „zurückgeht“ und
- es alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der Folgen der Annullierung (und großen Verspätung) ergriffen hat.
Eine Definition der Begriffe „außergewöhnlicher Umstand“ und „zumutbare Maßnahmen“ findet sich im Text der Verordnung indes nicht. Das änderte der EuGH in der Rechtssache Wallentin-Hermann.
Hintergründe des Falles
Die Klägerin buchte für sich und ihre Familie Plätze für einen Flug der Alitalia von Wien über Rom nach Brindisi. Der Abflug ab Wien war am 28.06.2005 um 06:45 Uhr vorgesehen, die Ankunft in Brindisi am selben Tag um 10:35 Uhr. Nach der Abfertigung, und nur fünf Minuten vor der geplanten Abflugzeit des Flugs von Wien nach Rom wurde den Fluggästen mitgeteilt, dass ihr Flug annulliert sei. Die Annullierung des Fluges ging auf ein komplexes Motorgebrechen in der Turbine zurück, das am Vorabend bei einer Überprüfung entdeckt worden war. Alitalia war davon in der Nacht vor dem Flug um 01:00 Uhr informiert worden. Die Reparatur des Flugzeugs, die die Beschaffung von Ersatzteilen und den Einflug von Technikern erforderte, wurde am 08.07.2005 abgeschlossen. Die Fluggäste wurden auf einen Flug einer anderen Airline nach Rom, doch ihren Abschluss nach Brindisi verpassten sie. Letztlich erreichten sie Brindisi um 14:15 Uhr.
Die Klägerin forderte von Alitalia wegen der Annullierung ihres Flugs u.a. eine Ausgleichszahlung in Höhe von 250,00€ gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 der Fluggastrechteverordnung (VO Nr. 261/2004).
In erster Instanz gab das Bezirksgericht für Handelssachen Wien ihrem Antrag auf Ausgleichszahlung u. a. mit der Begründung statt, dass die technischen Gebrechen der betroffenen Maschine keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 seien, die die Ausgleichspflicht entfallen ließen. Alitalia legte gegen diese Entscheidung Berufung beim Handelsgericht Wien ein, das dem EuGH zwecks Auslegung des Art. 5 III EuFlugVO zur Vorabentscheidung vorlegte.
Kernaussagen
In der wegweisenden Entscheidung „Wallentin-Hermann“ legte der Europäische Gerichtshof die grundlegenden Maßstäbe, wonach diese Begriffe auszulegen sind.
- Außergewöhnliche Umstände sind Umstände, die außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Als „außergewöhnliche Umstände“ werden also Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der betreffenden Airline sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist.
- Welche Maßnahmen einem Luftfahrtunternehmen in diesem Zusammenhang zumutbar sind, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Airline muss in jedem Fall konkret nachweisen, dass sie unter Einsatz aller ihr zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel offensichtlich nicht möglich gewesen wäre, ohne angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer die außergewöhnlichen Umstände zu vermeiden, mit denen es konfrontiert war und die zur Annullierung des Fluges geführt haben.
Neben diesen noch heute wichtigen Feststellungen verhielt sich der EuGH noch zu der damals spannenden Frage des Verhältnisses zwischen Montraler Übereinkommen und EuFlugVO. Wegen der heute nur noch dogmatischen Relevanz dieser Frage blenden wir diese Fragestellung im Folgenden aus.
Ausblick
Inzwischen sind die in “Wallentin-Hermann” konkretisierten Grundsätze längst Teil des gerichtlichen Alltags. Die Motivation des EuGH liegt auf der Hand: Er wollte der damals etwas zu großzügigen Handhabung des eng gedachten Kriteriums „außergewöhnlicher Umstand“ einen Riegel vorschieben. Die Gerichte nahmen diesen Gedanken auf und weiteten ihn aus. Im Zuge dieser Entwicklung teilen nunmehr Betankungsverzögerungen oder Probleme mit der Verfügbarkeit von Abfertigungs- beziehungsweise Flugpersonal das Schicksal der “Motorgebrechen”. Der Grund dahinter ist sehr eingängig: Es fällt in die Risikosphäre einer Airline, ob ihre Flugzeuge vollständig betriebsbereit sind.
Die Praxis begnügte sich damit nicht. Gerichte weiten diesen Gedanken (meist auf den bedingt passenden Erwägungsgrund 6 der Verordnung abstellend) auf jede Tätigkeit aus, die auch ein Luftfahrtunternehmen theoretisch ausführen könnte. Abfertigung von Gepäck und die Instandhaltung von Flugzeugen kann beispielsweise auch die Airline selber machen, weshalb die Tätigkeit des Flughafens für das Luftfahrtunternehmen als Werk der Airline gewertet wird und damit von ihr zu beherrschen ist. Dies spielt vor allem bei der im Winter wiederkehrenden Enteisung von Flugzeugen[1] oder bei Verzögerungen aufgrund der Abfertigung am Boden eine Rolle.
Darüber hinaus zählen zu den Rahmenbedingungen des Luftverkehrs für die Rechtsprechung inzwischen auch regulatorische oder (manchmal auch vermeintlich) häufig wiederkehrende Maßnahmen. Bei konstanten Bedingungen, die ausnahmslos jedes Luftfahrtunternehmen betreffen, muss das überzeugen. Hier fallen vor allem sog. “Nachtflugverbote”[2] oder nahezu überall wiederkehrende klimatische Bedingungen (beispielsweise Temperaturen um den Gefrierpunkt im Winter) ein.
Schwierig ist diese Entwicklung dann, wenn sie in Widerspruch zum Regel/Ausnahmeverhältnis im Wortlaut der Erwägungsgründe tritt:
Erwägungsgrund 14 der Verordnung erkennt “außergewöhnliche Umstände” im Regelfall in mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen und Sicherheitsrisiken. Dass die Menschheit dem Wetter als Rahmenbedingung ihrer Existenz schon seit Anbeginn ihrer Zeit ausgeliefert war, dürfte der Verordnungsgeber auch erkannt haben. Daher beschränkte er die “Regel der Ausnahme” auch auf Wetter, welches die Durchführung eines Fluges nicht mehr vertretbar macht. Dies ist konsequent, weil dem Wetter stets eine für Menschen nicht vorhersehbare Eigendynamik innewohnt. Planen im täglichen Geschäft ist für so etwas schlicht nicht vollkommen zuverlässig möglich. Der Blickwinkel des Verordnungsgebers war hier daher der Luftverkehr im Allgemeinen, nicht das Geschäft auf einzelnen Routen oder Flughäfen. Einige Gerichte gehen dennoch dazu über, aufgrund ihrer eigenen forensischen Praxis für sie häufiger zu beobachtende Wetterphänomene entweder in einzelnen Regionen oder allgemein (vor allem Gewitter) den Charakter eines außergewöhnlichen Umstandes abzusprechen. Für ein Luftfahrtunternehmen heißt dies:, Es muss in diesen Fällen zu den Entstehungsbedingungen bestimmter Wetterarten[3] und ggfs. zu geographischen Gegebenheiten von Flughäfen und Flugrouten fundiert vorzutragen hat. Sofern die Geographie bestimmte Wetterbedingungen diese besonders begünstigt, hat das Luftfahrtunternehmen entweder planerische Maßnahmen zur Abfederung der Auswirkungen zu schildern (dies wird bei geographischen Gegebenheiten selten möglich sein.) oder vorzutragen, inwieweit die Wetterbedingungen durch die geographische Lage nicht begünstigt wurden beziehungsweise das Gericht das entsprechende Wetter nicht richtig oder zu pauschal versteht.
Dem ist entgegenzutreten. Bei geographisch ungünstig gelegenen Flughäfen werden so im Ergebnis Anreize gesetzt, diese vom Versorgungsnetz abzuschneiden, weil eine Airline bei solchen Flughäfen faktisch einer Garantiehaftung ausgesetzt wäre. Nicht immer hat ein Luftfahrtunternehmen hier eine Wahl.[4]
Ebenfalls bedenklich ist die Entwicklung bei Streiks. Auch wenn Erwägungsgrund 14 diese im Regelfall als außergewöhnliche Umstände anerkannte, kann dies de facto nur noch für einen Streik des Sicherheitspersonals und der Fluglotsen gesagt werden – beides in staatlicher Hand liegende Aufgaben. Bei allen anderen Streiks gelangten Gerichte meist über den Umweg der Zurechnung zu Rahmenbedingungen des Luftverkehrs – sei es, weil das Flughafenpersonal betroffen war oder weil Arbeits- und Tarifbedingungen (teils auch konzernweit) zu den allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eines Unternehmens gehören. Dies lässt sich mit einem genuin auf den Vollzug des Luftverkehrs gemünzten Verständnis nicht vereinbaren und war ausweislich des Erwägungsgrundes 14 auch nicht so angedacht.[5]
Zuletzt ist auf die die in Erwägungsgrund 15 angelegten Maßnahmen des Luftverkehrsmanagements hinzuweisen. Im letzten Jahr lag die durchschnittliche Verspätung eines Fluges aufgrund von Regulierungsmaßnahmen der Flugsicherung (ähnlich dem „Rekordflugjahr“ 2019) bei 1,8 Minuten.[6] Diese auffallend geringe Zahl findet ihre Grund darin, dass die Luftfahrtkontrolle im Vorfeld detaillierte Flugpläne7 erhält und mit verschiedenen Flugflächen Flugzeugrouten effizient aufeinander abschichtet. Das System funktioniert so gut, dass Verzögerungen aufgrund behördlicher Regulierungen im Blick auf die Gesamtluftfahrt die praktische Ausnahme darstellen – erst recht solche, die zu Verspätungen von über drei Stunden oder gar Annullierungen führen. Der Verordnungsgeber erkannte in ihnen daher zu Recht außergewöhnliche Umstände. Die gerichtliche Praxis verkehrt dieses Regel/Ausnahmeverhältnis durch Berge von Akten, welche durch eine auf Zersplitterung von Flügen ausgelegte Prozessführungspraxis von Rechtsdienstleistern noch weiter aufgebläht werden. Bei einer solchen Wahrnehmung davon auszugehen, dass Verzögerungen aufgrund von Maßnahmen der Luftfahrtkontrolle eine zu erwartende Rahmenbedingung darstellen, ist menschlich verständlich[7], rechtlich jedoch nicht haltbar.
Wallentin-Hermann stellt ein Luftfahrtunternehmen daher in naher Zukunft vor allem vor zwei Herausforderungen: Es muss erstens den Annahmen von Klägern und Gerichten auf psychologischer wie sachlicher Ebene entgegentreten können sowie darüber hinaus ein Bewusstsein für die regulatorischen Hintergründe des Luftverkehrs schaffen.
[1] Instruktive Übersicht bei BeckOK Fluggastrechte-VO/Schmid, 29. Ed. 1.1.2024, Fluggastrechte-VO Art. 5, Rn. 115 – 118.
[2] Verwaltungsrechtliche Auflagen im Planfeststellungsbeschluss des jeweiligen Flughafens, welche Beschränkungen des Flugbetriebs vor allem in den Nachtzweiten vorsehen.
[3] Die Meteorologie unterscheidet zwischen Luftmassengewitter (entstehend durch warme, feuchte Luft, welche zu massiver Wasserverdunstung und damit starker Wolkenbildung führt), Frontgewittern (entstehend an der Grenze herannahender Kaltfronten, aber gelegentlich auch vor Warmluftmassen an Warmfronten) und orografischen Gewittern, wo die Luftmasse an ein geographisches Hindernis wie einen Gebirszug aufgleitet. Näheres in Häckel, Meteorologie, 9. Aufl. 2021, S. 113.
[4] Eine Airline kann gemäß Art. 9 VO (EWG) 95/93 verpflichtet werden, einen bestimmten Flughafen aufgrund des öffentlichen Interesses der Anbindung bestimmter Regionen anzufliegen. Dies betrifft vor allem Inselflughäfen. Weiterführend Schladebach, Luftrecht, 2. AUfl. 2018, § 5, Rn. 33 f. mwN.
[5] Ebenfalls krit. Schladebach, Luftrecht, 2. AUfl. 2018, § 8, Rn. 22 mwN.
[6] https://www.eurocontrol.int/sites/default/files/2023-05/eurocontrol-annual-nor-2022-main-report.pdf (Abrufdatum: 04.09.2023.)
[7] Zu denken sind hier vor allem an die Repräsentativitätsheuristik oder den Bestätigungsfehler. Weiterführend und ebenfalls durch menschliche Informationsaufnahme bedingte Biases erläuternd Effer-Uhe/Mohnert, Psychologie für Jursiten, Rn. 66, 126 ff. und 138 ff. Dies soll kein persönlicher Affront, sondern lediglich eine Erinnerung an die Fehlbarkeit des Menschen sein, mit der jeder von uns leben muss.
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